Alles Masochisten!?
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Alles Masochisten!?

Warum tun sich Menschen sowas an? Wer läuft freiwillig 100 Kilometer in 24 Stunden durch, ohne einmal zu schlafen?

Sandra B. ist einer dieser Menschen. Auf meine Frage nach dem »Warum?« schreibt sie: Ich wollte einfach an meine Grenzen gehen, bzw. gucken wann meine Grenze erreicht ist … Aber da geht noch was …!!! Ich brauch’ immer Herausforderungen …!!!!

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Keine 24 Stunden-Wanderung, sondern »nur« ein Wandermarathon. Start im Morgengrauen auf dem Saar-Hunsrück-Steig. Tapfer steht die Edelsteinkönigin ihre Frau! (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Seine Grenze finden! Aber warum?

Um Grenzen geht es also. Grenzen im Kopf. Aber was bringt mich dazu, mit meinen 63 Jahren noch einmal eine solche Herausforderung zu suchen. Von früheren Langstreckenwanderungen weiß ich, dass 100 km eine absolute Herausforderung sind. Ich habe bereits die Erfahrung gemacht, dass ich schon nach zirka 60 km an meine Grenzen komme, sowohl körperlich, emotional, aber auch mental.

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Schon zu Beginn zieht sich die Gruppe schnell auseinander (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Natürlich könnte ich dann aufhören, auch dann könnte ich schon stolz sein, denn ich hätte auch dann schon etwas geschafft, was wohl über 90 Prozent meiner Mitmenschen nie in Angriff nehmen (würden). Warum werde ich weiterlaufen? So wie Sandra es gemacht hat?

Es geht zuallererst einmal um die Sache mit dem Kopf. Ich wandere seit 30 Jahren, also etwa die Hälfte meines Lebens. Ich kann mich erinnern, dass ich anfänglich schon nach 15, 16 Kilometern erschöpft war. Das lag aber nicht an mangelnder Kondition, sondern daran, dass ich unterwegs nie etwas getrunken habe. Als ich das änderte, waren auch Distanzen über 20 km kein Problem mehr. Wenn die Distanz aber Richtung 30 km ging, hatte ich innerlich Respekt und habe mich gerne davor gedrückt.

Meine erste 24-Stunden-Wanderung

Dann kam eines Tages (2015) die Einladung zu einer 24-Stunden-Wanderung (ich hatte in der Zwischenzeit 2 Wanderbücher geschrieben und angefangen über meine Wanderungen zu bloggen, dann bekommt man schon mal eine Einladung). Ich hatte schon früher einmal darüber gelesen, aber teilgenommen hatte ich bis dahin noch nicht.

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24-Stunden-Wanderung als Gruppe, hier die Teilnehmer, die zusammen mit mir eingeladen worden waren (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Vom Veranstalter bekamen wir auch Hinweise, wie wir uns vorbereiten könnten. Das las ich mir durch und legte den Vorschlag dann zur Seite. Ich machte mir meinen eigenen Plan. Der sah vor, dass ich mich langsam steigern wollte, um schließlich als längste Tagesroute einmal 50 km zu laufen bzw. den AhrSteig, der von der Quelle bis zur Mündung fast genau 100 km lang ist, in zwei aufeinanderfolgenden Tagesetappen zu gehen. Wie gut, dass das ich diesen Plan nie umgesetzt habe.

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Bei der 24-Stunden-Wanderung von Bernkastel-Kues nahmen insgesamt nur 170 Leute teil. Hier blieb die ganze Gruppe anfänglich doch eng zusammen (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Das längste, was ich dann in der Vorbereitungszeit gelaufen bin, waren 36 km. Und diese Zahl war  fortan wie festgemeißelt in meinem Kopf. Sie stellte eine magische Grenze dar. Bei der 24-Stunden-Wanderung von Bernkastel-Kues – das war die Veranstaltung, zu der ich eingeladen worden war – wanderte man nun nicht von A nach B über eine Distanz von etwa 100 Kilometern, sondern hier gab es von einem zentralen Startpunkt aus drei Rundwanderungen, von denen die erste etwas über 40 km Länge hatte, die beiden anderen jeweils über 20 km.

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Fleißige Helfer an den Verpflegungsstationen haben alle Hände voll zu tun (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Die Grenze im Kopf habe ich bei dieser Tour überwunden

Die erste Runde – sie war quasi Pflicht, die beiden anderen dann die Kür – startete kurz vor Mittag und ich habe sie in etwa acht Stunden geschafft. Damit war aber auch die magische Grenze in meinem Kopf geknackt.

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Andere Zeit, anderer Ort. Wieder Start am frühen Morgen, es regnet (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Jetzt traute ich mir noch mehr zu, ich habe noch die nächste Runde drangehängt – die war allerdings nur 24 Kilometer, sodass ich am Ende etwa 65 Kilometer bewältigt hatte. Diese zweite Runde führte durch die anbrechende Nacht. Ein schönes Erlebnis, wenn man es schafft, sich von der Beschäftigung mit den körperlichen Beschwerden, die sich dann garantiert schon eingestellt haben, zu lösen.

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Gemeinsam löst man auch Probleme unterwegs. Hier zum Beispiel: Wie komme ich möglichst fotogen über die kleine Furt (Hans-Joachim Schneider)

Nach 65 km war ich echt fertig

Nach den 65 Kilometern war ich echt fertig. Meine Beine fühlten sich hölzern an, meine Füße hingen wie Steine am unteren Ende dieser Hölzer. Normales beschwingtes Gehen? Das konnte ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen. Gehen, das war ein quälender mechanischer Vorgang gegen alle Widrigkeiten von Schwerkraft und Mechanik. Einziger Trost: Mit Blasen an den Füßen hatte ich kaum Probleme. Da zahlte sich meine lange Wandererfahrung aus und die Wahl der richtigen Socken und Schuhe.

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Es müssen nicht immer die teuren Sportschuhe sein. Den Wandermarathon auf dem Saar-Hunsrück-Steig habe ich in Sandalen hinter mich gebracht (Foto: Hans-Joachim Schneider).

Aber ich fühlte mich so erschöpft und ausgelaugt wie nie zuvor in meinem Leben. Und darüber hinaus fühlten sich noch viele Stellen meines Körpers einfach wund an. Warum also tue ich mir sowas an?

Warum also tue ich mir das an?

Ich habe es schon geschrieben: Ich habe dabei die Schranke in meinem Kopf überwunden, das ist der eine Aspekt der Geschichte. Diese einmalige Erfahrung lässt sich wunderbar übertragen auf andere Aufgaben im Leben: Die Beschränkungen sind bei Dir und bei mir im Kopf. Wir können viel mehr, als wir glauben. Probiere es aus.

Der zweite Aspekt, der auch mit Grenzen zu tun hat: Du hast Deinen Körper an seine Grenzen gebracht. Eine vielleicht schmerzhafte, im Nachhinein aber auch eine wertvolle Erfahrung, denn Du hast Deine Komfortzone verlassen.

Was hat das mit meiner Komfortzone zu tun?

Komfortzone ist gemeinhin das, was wir brauchen, um uns wohlzufühlen, zu entspannen. Richten wir uns aber zu sehr in der Komfortzone ein, töten wir langsam in uns alles ab, was Begeisterung, echte Freude und Ekstase in unser Leben bringt. Aber unsere Seele braucht das Feuer der Begeisterung, braucht Leidenschaft und Ekstase. Ohne diese Erfahrungen stumpft sie ab. Wir alle kennen das Klischee vom Couchpotatoe – nach der Arbeit mit der Flaschen Bier auf’m Sofa vor dem Fernseher. Das ist Komfortzone, aber wieviel wirkliches Leben ist da noch drin? Mir scheint, dass das nur noch Leben aus zweiter Hand ist.

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Neben der körperlichen Herausforderung bieten Langstreckenwanderungen meist auch eine reizvolle Landschaft (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Es fällt auch mir schwer, meine Komfortzone zu verlassen. Sie ist biologisch gesehen ein Teil unseres genetischen Programmes. Alles was das Wohlbefinden stört, alles was Spannungszustände auslöst, wird von diesem Impuls soweit und so schnell wie möglich ausgeglichen. Aber unser modernes Leben hat wie nie zuvor in der Geschichte, das Einrichten in der Komfortzone geradezu perfektioniert, sodass wir nun anfangen, darunter zu leiden.

Die Seele sucht nach Extase

Viele unserer Extremsportler wissen vielleicht gar nicht so genau, was sie antreibt. Aber sie sind in meinen Augen auf der Suche nach der Grenze, an der sie den Rausch erleben, den Adrenalinkick, der ihnen wieder das Gefühl gibt, lebendig zu sein, sodass sie wieder spüren, dass sie intensiv leben. Und das wiederum schafft Glücksgefühle.

Am Ende aber steht das Glücksgefühl

Beim Extremwandern kommt dieses Glücksgefühl nicht so unmittelbar, es braucht länger. Es kommt wie eine sanfte Welle nach der Wanderung, aber es kommt. Du bist erschöpft, erschlagen, ausgelaugt, aber glücklich. Und stolz: Wie der Bergsteiger, der nach elendigen, teils lebensgefährlichen Strapazen endlich den Gipfel erreicht hat.

Ich für mich habe dabei noch eine persönliche Phantasie. Ich erreiche das Ziel am frühen Morgen zurzeit des Sonnenaufgangs, gehe quasi in die aufgehende Sonne hinein. Sie empfängt mich mit einem warmen hellen Gruß und ich weiß, ich bin angekommen. Leider wird das nix, dafür starten diese Wanderung zu spät am Tag. Der Sonnenaufgang wird stattfinden, lange bevor ich das Ziel erreicht habe.

Und wie hat Sandra ihre erste 24-Stunden-Wanderung erlebt?

»Zu Beginn hab ich mir gedacht, was hast du dir da denn wieder ausgedacht ??!! Trainiert hatte ich nur sporadisch und auch nur Distanzen bis 40 km …

Aber nun gut, 16 Uhr ging es los…. Wir sind mit 4 Leuten gestartet, und sind auch weitestgehend zusammen gelaufen. Alleine hätte ich mir das nicht zugetraut😐

Unser Tempo war recht zügig, wobei mir klar war: Das Tempo kann ich nicht halten …

Ab km 20 plagte mich die erste Druckstelle … Leider auch nicht die letzte, ab km 70 waren dann diverse Blasen entstanden … Ich hatte meine super eingelaufenen Salomon-Schuhe an und auch bei den Socken keine Experimente gewagt … War halt einfach die Distanz, die meine Füße dahingerafft hatten.

Meine Motivation in der Nacht war eigentlich ungebrochen, ein bißchen müde, aber Musik auf die Ohren und weiter gings …

Am VSP 4 gab es um halb neun morgens die weltbeste Krakauer vom Grill 😁😁  (eins der Highlights für mich)
Das zweite war der tolle Sonnenaufgang ❤

Wir sind dann um 14.15 Uhr am Sonntag total happy ins Ziel💪💪💪 darauf erst mal 3 Astra 🍺

Fazit: ein tolles Erlebnis, welches im September in Köln auf jeden Fall wiederholt wird !!!!

Soweit also Sandra. Vielleicht trefft ihr euch bei der nächsten 24-Stunden-Wanderung!

Falls Du Dir tatsächlich überlegst, Dich auch mal dieser Herausforderung zu stellen, findest Du unter folgendem Link ein paar Tipps, wie Du Dich relativ stressfrei auf Deine erste Langstreckenwanderung vorbereiten kannst:

http://bit.ly/2pD9Ee8

Falls Du aber noch ganz am Anfang Deiner Wanderkarriere stehst, gibt es hier noch einige Ratschläge, wie Du als Frischling am besten mit dem Wandern beginnst.

http://bit.ly/2jMTxL8

Und noch zwei Hinweise, die Dir helfen sollen, Deine 24-Stunden-Wanderung so gut wie möglich zu überstehen.

Ganz wichtig: Finde Deinen eigenen Rhythmus. Lass Dich nicht von anderen in ein Tempo hineinziehen, dass Du nicht durchhalten kannst. Das macht es schwierig für Leute, die in einer Gruppe wandern, die sich noch nicht kennt. Wenn ihr also zu mehreren gehen wollt, trainiert auch oft genug zusammen, nur dann wisst ihr, ob die Gruppe für euch zu schnell, zu langsam oder genau richtig ist.

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Es tut gut, wenn man in der Gruppe Anschluss findet. Wichtig ist aber auch, den eigenen Rhythmus zu finden (Foto: Hans-Joachim Schneider)

Kommunikation unterwegs: Es kann hilfreich sein, sich unterwegs Leute zu suchen, um sich mit diesen auszutauschen, sei es über ihr Wohlbefinden, ihre Ambitionen oder einfach nur Smalltalk. Ich persönlich mag es, mich immer mal wieder einzelnen Mitwanderern anzuschließen, und mit diesen ein paar Kilometer gemeinsam zu laufen. Dann lass ich mich zurückfallen, gehe wieder ein Stück für mach alleine, um mich, wenn mir danach ist, dem Nächsten anzuschließen. Das Gespräch kann helfen, den eigenen Totpunkt zu überwinden, den Moment, in dem Du glaubst, dass Du es nicht mehr lange machst. Einfach gehen.

6 Comments
  • nida78
    Posted at 07:36h, 23 April Antworten

    Schöner Beitrag! Du sprichst mir in vielen Punkten aus der Seele 🙂

    • Hans Joachim Schneider
      Posted at 07:46h, 23 April Antworten

      Lieber Nico, danke für das nette Kompliment. Wenn ich es schaffe, die Seele der Menschen anzusprechen, dann bin ich froh. Denn die kommt heute ja meistens zu kurz. Schöne Grüße und noch viele spannende Wanderungen. Joachim

  • Jama
    Posted at 02:33h, 17 Juli Antworten

    Hi,

    wir hatten im letzten Jahr in Bayern an einer 24 h Wanderung teilgenommen. Es war schön, aber auch anstrengend.

    LG

    • Hans Joachim Schneider
      Posted at 07:42h, 17 Juli Antworten

      Hallo Jama, mir stehen in diesem Jahr noch zwei solcher Veranstaltungen bevor. Ich werde dann darüber berichten. Ihr habt in Bayern teilganommen? Darf ich fragen, welche Veranstaltung das war. Mit Freunden führen wir einen Kalender, in dem alle Langstreckenwanderungen aufgelistet sind. Ich wünsche euch noch viel Freude an der Natur. Von München aus habt ihr es ja nicht weit in die Berge. Früher bin ich viel in den Ammergauer Alpen gewandert. Ich denke gerne daran zurück. Schöne Grüße aus der Eifel. Joachim

  • wanderwegewelt
    Posted at 14:01h, 08 September Antworten

    Ich habe mich wiedergefunden. Sowohl im Sinne als auch auf den Bildern. Morgen geht es für mich los. Grenzen finden und überschreiten. Wir sehen uns.

    • Hans Joachim Schneider
      Posted at 14:07h, 08 September Antworten

      Lieber Jürgen, dann bin ich froh, etwas dazu beigetragen zu haben. Und ja, wir sehen uns in der Pfalz.

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